ENTDECKUNGEN
EPOCHE 1 - ZYKLUS 2 - MOND 367
Die Schritte im Senatspalais von Stormgard waren kaum zu vernehmen in dem glockenartigen Gebäude.
Diese Mauern um sie herum strahlten geballte Macht aus. Zuversicht, Überzeugung und absolute Willensstärke. Doch dies alles traf auch auf die Trägerin der grünen Schuhe zu, die eilig, aber nicht gehetzt, über den weißen Sandstein schritten. Die schwere graue Robe, die sie trug, war aus feinstem Ilys. Einem dichtgewebten Stoff, der angeblich aus den Fäden eines Baumes aus der Revaria Dynastie gewonnen wurde. Er hatte heilende Kräfte, und selbst die Gelehrten von Uhltra waren nicht im Stande herauszufinden, wie dies möglich war. Die Kapuze tief in das Gesicht gezogen, gab nichts über die Trägerin preis. In der Mitte des Sitzungsaales schrieen sich zwei Männer an. Victor Tescar und Alma Sidus. Der Kriegsheld Tescar überragte die meisten Anwesenden um mindestens einen Kopf und ließ den schmächtigen Sidus wie eine kleine Maus wirken. Als Maila Rekhar in der Mitte des Raumes zum Stehen kam, verstummten die Männer und schwiegen. Die Vorsitzende des Senates lauschte der Stille, die ihr Erscheinen hervorgebracht hatte. Das war kein Höflichkeitsbesuch. Die Situation an der Front geriet außer Kontrolle. Sie waren gezwungen zu handeln. „Wie ich sehe, seid ihr wohlbehalten zurückgekehrt, Tescar.“, sagte Maila leise, aber dennoch vernahm jeder im Raum ihre sanfte Stimme. Tescar gab nur ein verächtliches Schnauben von sich und baute sich vor der zierlichen Frau auf. „Ja, das bin ich. Aber das ist nicht Euren beiden Abgesandten zu verdanken, die vor Gulbur Quir mit drei Windböen versucht haben, die Horden des Chaos aufzuhalten!“, donnerte seine wütende Stimme durch die Kuppel des Gebäudes. Das Echo seiner Worte hallte wie ein schwerer Vorwurf auf sie nieder. „Ja. Sie haben es nicht geschafft. Doch das lag nicht an meinen Getreuen. Ihr Verlust ist für unsere Reihen noch immer nicht abschätzbar. Dennoch konnten sich viele zurück nach Gulbur Quir retten. Euch eingeschlossen!“ Ihre Stimme hatte einen warnenden Unterton angenommen. Maila Rekhar mochte zierlich, oder für manchen zerbrechlich wirken, doch das täuschte. Sie hatte Macht. So viel Macht, dass sie selbst einen Victor Tescar in die Knie zu zwingen vermochte. Ohne aufzublicken, oder den Kopf nur im Ansatz zu heben, umrundete sie Victor. Sie stellte sich vor die Versammlung des Senates. Die meisten Männer hatten sich unlängst beruhigt und saßen ungeduldig auf ihren Bänken. „Was vor den Toren von Gulbur Quir passiert ist, hat uns gezeigt, dass die Horden des Chaos sich formiert haben. Sie sind zu einer großen Schlacht aufgebrochen, um uns in unseren Gefilden anzugreifen und zu vernichten. Mich erreichte die Nachricht, dass Insidiis gesichtet worden sei.“ Ein Raunen hallte durch den Saal bei Erwähnung des Titanen. „Schon sehr lange hat man von diesem Monster nichts mehr gehört, oder gesehen. Doch wenn das Chaos einen seiner wichtigsten Dämonen in den Krieg schickt, wage ich nicht darüber nachzudenken, was uns noch aus den Splitterschluchten erwarten könnte.“ Sie wartete einen Moment, um ihre kommenden Worte wirken zu lassen: „Ich habe einen Späher entsandt. Schon vor einiger Zeit.“
Rufe und aufgeregtes Geflüster stoben durch den Saal. Maila hielt inne. „Er kam heute Morgen zurück.“, hob sie ihre Stimme über die Aufrufe der Anklagenden hinweg. Sofort wurde es still. „Aus irgendeinem Grund hat die Horde sich vor Gulbur Quir festgesetzt. Sie bewegen sich nicht vom Fleck. Und es wurde mir berichtet, dass Insidiis immer wieder Richtung Norden schauen würde. Nicht zu den Splitterschluchten, sondern zu den Schattenbergen. Meine große Befürchtung ist, dass auch aus diesen uns verlorenen Orten und Siedlungen eine zerstörerische Macht zum Krieg aufbricht. Ich habe meinen Späher in Richtung der Schattenberge gesendet.“ Als Maila schwieg, erwuchsen Wutreden und Bedenken über die Fraktionsreihen hinweg. Vorwürfe wurden laut, Schimpftiraden verteilt, und Drohungen ausgesprochen. Der ewige Kampf um Vorherrschaft hatte wieder Einzug im Senat gehalten. Maila war verpflichtet klar zu machen, wer hier die Macht hatte. „Ruhe!“, rief sie mit kräftiger Stimme die Mitglieder zur Ordnung. Sie sprach erst weiter, nachdem sich die Stimmen gesenkt hatten, und sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. „Solange wir nicht wissen, was uns aus den Schattenbergen droht, müssen wir Gulbur Quir halten. Aus diesem Grund werden wir noch heute einen unserer Titanen an die Front entsenden.“ Maila beugte ihren Kopf nach rechts und starrte Tescar auf die Füße. „Ihr werdet ihn begleiten.“ Victor gab keinen Laut von sich. Für einen Moment hob sie den Kopf, und er konnte einen kurzen Blick auf ihr blasses Gesicht erhaschen. „Und ich werde Euch begleiten.“ Victor nickte und grinste dreckig. Alma Sidus war aufgesprungen und redete auf die Vorsitzende ein. „Maila, bitte. Ihr müsst hier bleiben in Stormgard. Wir brauchen Euch bei der Erprobung unserer Titanen. Ihr dürft nicht nach Gulbur Quir gehen!“ Sie starrte den weißen Sandstein zu ihren Füßen an. Niemand sah, wie sie tief die Stirn runzelte. Es schien Alma Sidus äußerst wichtig zu sein, dass sie Stormgard nicht verließ. „Eure Bedenken in allen Ehren, Sidus. Aber ich denke, wir haben uns lang genug versteckt. Es ist an der Zeit den Titan Aggeris nach Gulbur Quir zu führen. Das Militär hält die Stellungen, bis wir wissen, was uns aus den Schattenbergen droht. Dann ergreifen wir weitere Maßnahmen.“ „Aggeris? Das kann nicht Euer Ernst sein! Er ist noch nicht so weit. Erinnert Euch an die letzte Begegnung mit den Horden. Er wäre ihnen beinahe in die Hände gefallen!“ Alma Sidus war aufgeregt für seine Verhältnisse. Maila schloss die Augen, damit die Erinnerungen an jenen Tag sie nicht heimsuchten. Tausende hatten sie an diesem Tag, vor über zehn Jahren, verloren. Und einen speziellen Menschen dazu. Verzweiflung stieg in ihrer Kehle hoch und schnürte sie wie einen Sack zu. Sie packte sich unbewusst an den Hals und schüttelte vehement die Gedanken von sich. Würgte den Zweifel und die Angst ab. Die Ratsmitglieder, die in ihrer unmittelbaren Umgebung standen, wurden eines seltenen Schauspiels Zeuge. Gefühlsregungen bei Maila Rekhar. Sie hob ihren Kopf nur leicht an und starrte auf Alma Sidus Füße. „Ich wüsste nicht, welchen Grund es gibt, dies mit Euch zu diskutieren! Es ist ein Befehl.“ Murmeln und erschrockenes Keuchen war zu hören. Denn sie hob ihre Kutte ab und schaute Alma Sidus direkt in die Augen. Die makellose Schönheit ihres Gesichtes wurde von einer blassen, aber unübersehbaren Narbe in den Hintergrund gedrängt. „Dies ist eine Senatssitzung, Maila. Wir entscheiden gemeinsam.“ Alma Sidus hob beschwichtigend die Hände. Seine Geste unterstrich er mit einem unterwürfigen Senken seines Hauptes. Das verächtliche Schnauben von Tescar überhörte er. Maila trat einen Schritt näher. „Ich bin nicht auf Stimmenfang Sidus. Ich habe den Vorsitz. Dies ist eine Entscheidung. Wir handeln. Und dazu brauche ich Euch nicht.“ Sidus Blick glitt zwischen Maila und Victor hin und her, bis Tescar aus vollen Hals lachte. Während Alma ob der Lautstärke merklich zusammenzuckte, bewegte Maila keinen Muskel. Victor beugte sich zum Vorsitzenden von Stormgards Wirtschaft und klopfte ihm, seiner Meinung nach vorsichtig, auf die Schulter. Alma Sidus taumelte. „Das nenn‘ ich Mum in den Knochen. So viel Mut dem Feind gegenüberzutreten könnte dem ein oder anderen aus der Wirtschaft guttun. Wie wäre es Sidus? Auf ein Tänzchen vor Gulbur Quir?“ Tescar lachte, denn Sidus wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht. So schnell gab Alma Sidus nicht auf. Er wandte sich an die oberste Gelehrte Vorsitzende, in der Hoffnung sie zur Vernunft zu bringen. „Maila. Bitte. So versteht doch. Ihr und die Gelehrten werdet mit den Titanen in Stormgard gebraucht. Wir sind die letzte Bastion vor der Vernichtung und vollständigen Zerstörung von Uhltra, wie wir es kennen.“ Maila hatte den Blick gesenkt. „In der letzten Schlacht verloren unzählige Männer und Frauen ihr Leben. Unsagbares Leid widerfährt den Familien, die vergebens auf ihre Lieben warten. Es ist Zeit, dem ein Ende zu setzen. Wir werden nicht noch einmal davonlaufen. Dieser Kampf wird der letzte sein. Und Aggeris wird die Schlacht anführen. Ich benötige Eure Zustimmung nicht. Das Militär steht hinter der Entscheidung der Gelehrten.“ Victor stellte sich demonstrativ hinter Maila und meinte flachsend: „Zudem kann man diesen Haufen von Quacksalbern ja nicht allein losmarschieren lassen. Die verlaufen sich womöglich noch hinter den Toren von Stormgard.“ Victor und einige seiner Kollegen lachten laut über seinen Witz. Maila ließ sich keine Reaktion anmerken. „Die Wirtschaftsfraktion muss für die Bereitstellung von Kriegsgerät und Lebensmitteln an der Front sorgen. Zudem müssen die Waffenschmieden Tag und Nacht brennen. Auch hier sind entsprechende Ressourcen durch Euch zu beschaffen. Die Dringlichkeit ist denke ich klar.“ In Sidus Mimik war weder Gegenwehr, noch Gehorsam zu erkennen. Mit einer plötzlichen tiefen Verbeugung verabschiedete er sich lautlos. Seine Anhänger folgten ihm still und leise.
Tescar beugte sich zu ihr herab und grollte. „Wage es nicht mich noch einmal so vorzuführen.“ Maila überging die Drohung. „Auf ein Wort Victor. Es ist dringlich. Folge mir. Ich habe wichtiges mit dir zu besprechen, bevor wir an die Front gehen.“ Ohne auf Tescars Reaktion zu warten, drehte Maila um und zog die Kutte wieder über den Kopf. Dann wandte sie sich gen Ausgang. Der Kriegsheld von Stormgard verabschiedete sich von seinen Kameraden mit einer Verabredung zum Umtrunk im Wirtshaus. „Wir treffen uns zum tänzelnde Taure, bei Unwir dem Zwerg. Die ersten Runden gehen auf mich.“, sagte er, bevor er mühelos, mit wenigen Schritten die zierliche Maila eingeholt hatte. „Ich hoffe es dauerte nicht zu lang. Die hübschen Kellnerinnen des Wirtshauses warten auf mich.“ Maila schwieg und lief voraus. „Was gibt es so Wichtiges, dass du mir sagen musst? Habt ihr eine neue Waffe entwickelt?“ Victor sah, wie Maila sachte den Kopf schüttelte. Bevor er zu weiteren Ideen über die Zusammenkunft zu rätseln imstande war, blieb sie abrupt stehen und schob die Kutte ihres Gewandes zurück. Ihre weißen Haare umrahmten das sanftmütige Gesicht. Sein Blick untersuchte fragend ihr Antlitz, dass entkräftet und flehend wirkte. So hatte er sie noch nie gesehen. „Damals, nach der Schlacht von Grimhorn, hatten wir ein Geschwisterpaar aufgenommen. Sie wurden beide bei der Schlacht dem Xil ausgesetzt. Er war immun. Sie mutierte und verwandelte sich in eine willenlose zerstörerische Tötungsmaschine. Sie waren Zwillinge, und der Bruder schwor bis zu seinem Tod, dass er seine Schwester noch immer hören konnte. In seinen Gedanken. Wie sie schrie vor Schmerz, wie sie ihn um Hilfe anflehte, sie von ihrem Leid zu befreien. Doch blickte man in ihre Gohr Augen, sah man nur schwarze Höhlen leeren Verstandes.“ Victor beobachtete sie angestrengt. Ihm gefiel die Richtung des Gespräches gar nicht. „Ich höre auch etwas.“, setzte sie fort. „Verzerrte Fetzen, Murmeln, Zischen. Und hin und wieder Silas, meinen Zwilling.“. Sie schaute ihrem alten Freund fest in die Augen. „Ich höre meinen Bruder. Als sie ihn damals bei der Schlacht von Grimhorn verschleppten, glaubte ich, ihn verloren zu haben. Doch einige Jahre später begann es. Die Stimmen. Das Rauschen. Wie dies möglich ist, können wir nicht erklären. Aber es hat etwas damit zu tun, dass Silas und ich Zwillinge sind, und mit der Verbindung, welche die Bestien untereinander teilen.“ Sie hatte jedes Wort fest und voller Überzeugung betont. Hektisch schaut sie sich um, doch die Gänge zu ihren Seiten waren wie leer gefegt. Victor blickte auf Maila nieder und kämpfte gegen den Drang an, sie entweder in den Arm zu nehmen, oder nach Leibeskräften zu schütteln, bis sie wieder bei Verstand war. „Was meinst du damit, ihr hattet einen Gohr hier?“, warf Victor ein. Welcher Gefahr wurde Stormgard ausgesetzt? Mailas Mine wurde ernst. Sie griff hinter ihren Kopf, nahm die Kapuze ihrer Kutte und zog sie sich tief ins Gesicht, bevor sie eiligen Schrittes ihren Weg wieder aufnahm. Victor folgte ihr einige Meter wortlos, bis sie an einer Tür stehen blieb, die ohne erkennbares Zutun geöffnet wurde. Helles Licht drang in den Gang, und Tescar hatte für einen Moment das Gefühl, Maila würde durch das Tor in eine andere Welt eintreten. Er folgte ihr und hielt sich schützend eine Hand vor die Augen, um das gleisende Licht abzuwehren. Augenblicklich glaubte er sich auf das Schlachtfeld versetzt. Die Geräusche und Gerüche, die auf seine Sinne einströmten, waren die gleichen wie im Kampf. Er zog seine Waffe. Ein Reflex. „Steck es weg.“, hörte er Maila eindringlich sagen. Victor kämpfte gegen das Licht, welches die Gelehrten in einer Kugelform gefangen hielten. Sie nutzten diese Magie als Waffe, um den Gegner zu blenden. Nur sah er hier keinen anderen Gelehrten. Maila blickte auf die grell blendende Kugel, und sie wurde schwächer. So dunkel, dass Victor sah, was er vorher schon gehört und gerochen hatte. Der Raum war voller Gohrs. Seine Muskeln waren bis in die letzte Spitze gespannt. Sein Herz raste. Sein Körper war auf Verteidigung eingestellt. „Sie können niemandem etwas tun.“, hörte er Maila flüstern. Victors Körper entspannte sich ein wenig. Was er sah, raubte ihm den Verstand. Im Raum waren fünf Kammern gleicher Größe und Form. Kleine, zu Kuppeln gewölbte Zellen aus schwarzem Sandstein. Darin hockten in Ketten gelegte Ghors. Sie sahen weitaus erbärmlicher aus als auf dem Schlachtfeld, aber auch regungsloser. Wie Gefangene, die das Urteil kannten und auf ihren Henker warteten. „Was ist das hier?“ Victor’s brüchige, fassungslose Stimme war ihm selbst fremd. „Ein Experiment.“, teilte Maila emotionslos mit, als ob sie über das Wetter reden würden. Er schritt auf eine der Kammern zu. Der Gohr der darin hockte, schnüffelt erst. Dann jaulte er, riss das zahnlose Maul auf und sprang auf Victor zu. Eine unsichtbare Barriere stoppten ihn. Die Ketten an Hals und Armen zerrten an ihm. Doch der Gohr gab nicht auf. Er presste sich gegen die Mauer aus Energie, bis Eiter aus den tiefen Wunden quoll und ein fauliger Gestank die Luft verpestete. Er erforschte die Stelle, die ihn abgestoßen hatte, starrte zu Victor und nahm erneut Anlauf. Er sprang und krachte auf den schwarzen Sandstein, als wenn eine Streitaxt ihn zu Boden gestreckt hätte. „Das reicht.“, hallte es hinter ihm und der Lichtball erstrahlte heller. Der Gohr wich zurück, schnüffelte aber weiter in seine Richtung. „Die Horden sind keine Ansammlung willenloser Hüllen. Sie werden geführt. Und damit meine ich nicht Insidiies, oder einen anderen Dämon, sondern etwas viel Größeres. Mächtigeres. Untereinander haben diese Wesen eine Verbindung. Sie können den Schmerz des anderen spüren.“ Victor drehte sich zu Maila und wich dem Lichtkegel, der ihn zu blenden drohte, aus. „Diese Viecher können gar nichts, außer töten und fressen.“ Maila schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich der Kammer zu, in der ein Gohr, an ein Gestell gekettet war. Seine Kleidung, die zum Teil noch an seinem verrotteten Körper hing, ließ vermuten, dass er das Leben eines Bauern geführt hatte. Ehrenvolle Menschen, die meist an der Front als erste Opfer fielen. Victors Blick huschte zu Maila, die durch die Barriere schritt. „Dann schau mal genau hin.“ Auf einer Seite der Zelle stand ein schäbiger Tisch, darauf waren Waffen platziert. Darunter eine kurze Streitaxt für den Nahkampf. Maila nahm die Axt, schritt auf den Gohr zu, hob sie hoch über ihren Kopf und hakte ihm die rechte Hand ab. Sofort stieß die Kreatur Laute des Schmerzes aus. Die übrigen Gefangenen in den Verliesen daneben, gaben wütende oder scheinbar mitfühlende Töne von sich. Sie jaulten, brüllten und glucksten. Geräusche, die er noch nie von ihnen gehört hatte. Maila trat aus der Zelle heraus und stellte sich vor Victor. Er beobachtete die armseligen Ungeheuer, wie sie mit ihren verfaulten Leibern, teils ohne Augen, Zungen, oder fehlenden Gliedmaßen versuchten, dem gefolterten Trost zu spenden. Maila packte Victors Arm. „Sie kommunizieren miteinander“, sagte sie leise. „Und sie haben ein Bewusstsein. Pass auf!“ Victors Kopf schoss zu Maila. Er wurde wütend. Sein Körper war noch immer nicht im Stande die Situation als ungefährlich einzustufen, er war in höchster Alarmbereitschaft, und Maila hörte nicht auf, die Szenerie zu übertrumpfen. „Silas!“, rief sie aus, und alle Gohrs gaben ein grässliches Fiepen von sich. Es war so laut und schrill, dass beide sich die Ohren zuhielten. Maila wies auf den Ausgang, hellte den Lichtkegel in der Mitte auf und verließ mit Victor zusammen den Raum. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß und die Laute verstummten. Victor atmete, als ob er im stundenlangen Einzelkampf seine Feinde niedergestreckt hätte. Er fühlte sich matt und erschöpft. „Die Dinge, die ich höre, sind für mich noch immer nicht verständlich. Verzerrt, wild kreischend, wie die Gohrs gerade. Manchmal ist es nur ein Raunen, oder gar ein Rauschen wie in weiter Entfernung. Aber es ist da, und es weiß auch, wer ich bin. Dann höre ich wieder Silas, wie er mich ruft. Leise, voller Angst. Er möchte nicht mehr leiden. Diese verwandelten Seelen scheinen dennoch eine Form des Bewusstseins zu haben.“ „Warte Maila, das ist Zuviel! Zwei Stimmen?“ Maila nickte, dann suchte sie den Korridor nach unliebsamen Zuhörern ab. „Ich muss dir noch etwas zeigen.“ Victor starrte geschockt hinter ihr drein. Die Gelehrte verschwand eilends im dunklen gebogenen Gang der Katakomben von Stormgard. „Noch mehr?“, fragte er fassungslos. Als ob das eben Gesehene nur ein kleines Possenspiel gewesen wäre. Er nahm die Verfolgung auf und sah, wie sie einige Meter weiter stehen blieb und hinter einer weniger hell erleuchteten Tür verschwand.
Victor hielt sich bereit, atmete tief durch und durchschritt ebenfalls den Eingang. Die Tür schloss sich geräuschlos hinter ihm. Der Raum war normal beleuchtet. Kein grelles Licht versuchte seine Augen zu erblinden. Hier gab es nur eine Zelle, zwar ebenso groß wie die der Gohrs von eben, aber nur eine. Und in diese Kerker saß still, die Hände im Schoß gefaltet, eine junge Frau mit herrlich blonden langen Haaren. Er sah nur ihr Profil. Sie war schön. Blasse Haut mit zartrosa Wangen. Lange Wimpern, die sanft niedergeschlagen waren. Die vollen Lippen leicht geöffnet. Wären sie sich in einer Schänke begegnet, hätte er sicherlich versucht, sie für sich einzunehmen. „Hallo Ecco.“, sprach Maila freundlich in ihre Richtung. „Ecco?“, flüsterte Victor und wusste nicht, wen er länger anschauen sollte, um Antworten zu bekommen. Maila blickte über ihre linke Schulter. „Sie kennt ihren Namen nicht mehr. Aber sie hat Erinnerungen, Fetzen von dem, was einst war. Wie ein Echo hallt es durch ihren Verstand.“ „Hallo Maila.“ Victor zuckt ob der röchelnd krächzenden Stimme zusammen. Gebannt starrte er auf die Frau hinter den Stäben, die mit Ketten um ihre Handgelenke an die Wand gebunden war. Langsam drehte Ecco den Kopf in Richtung Victor. „Tescar!“, zischte es scheinbar aus allen Ecken der Kammer. Reflexartig zog Victor sein Schwert und nahm eine Verteidigungsposition ein. „Das ist das Xil.“, hörte er Maila sagen. „Sie kennen euch.“, flüsterte die krächzende Stimme und drehte ihren Kopf vollends in seine Richtung. Victor sah nun ihr entstelltes Gesicht. Ihm wurde übel. Ihr rechtes Auge war nur eine vor Eiter triefende Höhle. Ihr Mund war zerlaufen wie zu lang erwärmter Käse und hing über dem Skelett herunter. Aus ihrem Arm wuchsen Beulen, kleine Hände und Augen. Als wenn weitere Menschen mit ihr verschmolzen wären. An anderer Stelle war durch Kampf, oder Verletzung während der Verwandlung der blanke Knochen zu sehen, und kleine Stücken von Haut baumelten an ihr, wie tote Blätter im Winter an einem Baum. Schwarze Stummelzähne starrten wie winzige fleischfressende Dämonen hervor. Ihre Zunge war grau auf dieser Seite und bewegte sich nicht. Das konnte das Röcheln und Zischen erklären. Die rechte Schulter schwebte scheinbar lose an ihr und war vermutlich aus dem Gelenk gefallen. Das Kleid, das sie trug, hing an ihrem rechten Arm nur herab und zeigte die eingefallenen aschfahlen Knochen. Darunter würde sie nicht appetitlicher ausschauen, überlegte sich Victor und war dennoch kurz enttäuscht, sie nie in einer Schänke getroffen zu haben. „Wir haben versucht die Mutation umzukehren. Es ist uns nicht zur Gänze gelungen. Was du hier bei Ecco siehst, ist eigentlich nur ein Aufschub vor dem Unvermeidlichen.“ „Ihr entwickelt ein Heilmittel?“, fragte Victor überrascht. „Wir versuchen es, ja.“ „Wie?“, wollte Victor wissen. Seine Atmung hatte sich beschleunigt und er begann zu schwitzen. Victor nicht beachtend, wandte sie sich an Ecco. „Ich komme später wieder, dir etwas vorlesen.“ Ecco nickte und deutete ein Lächeln an. Victor schluckte kräftig bei dem Anblick, und ein eisiger Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Maila berührte ihn kurz am Arm um ihm anzudeuten, dass er ihr folgen sollte. Er blickte zurück zu der Gestalt in der Zelle. Sie lächelte ihn noch immer an und hob die rechte Hand. Sie winkte ihm. Und ein Zischen kroch aus ihrem vergammelten Laib. „Bis bald Victor!“, röchelte und flüsterte es, und er war sich sofort sicher, dass nicht Ecco gesprochen hatte. Er wich einige Schritte rückwärts, bevor sein Instinkt es ihm erlaubte, sich umzudrehen und den Raum zu verlassen. Er hatte den Korridor noch nicht erreicht, da brach es aus Maila schon heraus. „Wir müssen angreifen. Aber nicht nur Stormgard. Wir brauchen Verbündete. Aus den Kupfergebirgen, alle Kriegsochsen der Tiefebene, alle Bogenschützen Gulbur Quirs. Alle, Victor. Einfach alle und jeden, der im Stande ist, ein Schwert, oder seine bloße Faust zu schwingen, oder einen Bogen zu halten, um Uhltra vor dem Untergang zu bewahren.“ Victor kam überhaupt nicht zu Wort. Er versuchte noch immer zu verdauen, was er hinter diesen beiden Türen gesehen hatte. „Wieso wurde Stormgard einer solchen Gefahr ausgesetzt?“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor. „Wir waren nie in Gefahr.“, antwortete Maila ruhig und verstand scheinbar die Aufregung nicht. „Wir müssen uns jetzt um wichtigeres kümmern, als diese faulenden Kreaturen. Wir müssen Uhltra vor dem Untergang retten, bevor es zu spät ist.“ Victor schüttelte den Kopf. „Ich verstehe, dass du kämpfen willst, Maila. Auch um seinetwillen. Das gibt aber weder dir, noch irgendeinem Gelehrten das Recht, die Menschen in Stormgard dieser Gefahr auszusetzen!“, und zeigte auf die Tür. „Und wie konntet ihr die Verseuchung rückgängig machen? Und wieso nur zur Hälfte?“ „Sie hat noch immer eine Verbindung zum Xil und somit auch zum großen Bewusstsein des Chaos. Wir konnten das Band nicht trennen. Wie wir die Heilung vorangetrieben haben ist streng geheim!“ Maila schien schwer in Rage zu geraten, denn ihrem gegenüber schien die Dringlichkeit ihres Handelns nicht bewusst. „Wir werden noch heute aufbrechen.“ Maila starrte ihn für einige Augenblicke stur an, dann drehte sie sich um und schritt eilig den Weg zurück zum Senatspalais. „Was hast du vor?“, rief er ihr nach. „Wir reiten nach Gulbur Quir und treffen unsere Verbündeten. Victor betrachtete einem Moment die Tür aus der sie gekommen waren, dann starrte er den leeren Korridor an. Er hatte so viele Fragen und nur eine Antwort. „Allein findest du nicht mal aus Stormgard hinaus!“, rief er, sprintete ihr nach und bedauerte, heute doch nicht mehr ein paar Münzen im Wirtshaus lassen zu dürfen.